Die Frage der Benachteiligung von Bürgern ostdeutscher Herkunft – also Menschen, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ihre Kindheit und Jugend verbracht haben und somit sozialisiert wurden (nachfolgend „Ostdeutsche“ genannt) – gegenüber Westdeutschen hat in den letzten Jahren mehrere Studien und auch die Gerichte beschäftigt. Nach der bisherigen Rechtsprechung wird die ostdeutsche Identität beziehungsweise Herkunft zwar nicht als ethnische Gruppe im Sinne der Antidiskriminierungsregelungen gewertet, sodass an diesem Merkmal bewusst oder unbewusst ausgerichtete Benachteiligungen Ostdeutscher nicht sanktioniert werden.
Unabhängig von dieser einstweiligen juristischen Einordnung gibt es einen erheblichen Bevölkerungsanteil in Thüringen, welcher mehrere Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung bei Ostdeutschen und Westdeutschen keine Chancengleichheit sieht.1 Eine besondere Rolle spielen dabei offenkundig Benachteiligungen im Arbeitsleben.2 Auch im Abgeordnetenalltag gewonnene Erfahrungen zur Einstellungs- und Beförderungspraxis im Freistaat
lassen zumindest nicht ausschließen, dass auch 30 Jahre nach der Wende ostdeutsche Lebensläufe zumindest in Teilbereichen des Staatsdienstes in Thüringen von Nachteil sind, zum Beispiel wenn sich (vermutlich aufgrund der durch Auswahlkriterien bestimmten mangelnden persönlichen Erfolgsaussichten) auf eine hochrangige Position im Staatsdienst Thüringens ausschließlich Bürger westdeutscher Herkunft bewerben.
Das Thüringer Finanzministerium hat die Kleine Anfrage 7/778 vom 17. Juni 2020 namens der Landesregierung mit Schreiben vom 15. September 2020 beantwortet:
1. Wie hoch ist der Anteil von Landesbediensteten in den Besoldungsgruppen A16 und B2 bis B10 mit ostdeutscher und westdeutscher Herkunft?
Antwort:
Zur Beantwortung wird auf die als Anlage beigefügte Übersicht verwiesen.
2. Wie hoch ist der Anteil von Landesbediensteten in den Besoldungsgruppen W2 bis W3 mit ostdeutscher und westdeutscher Herkunft?
Antwort:
Zur Beantwortung wird auf die als Anlage beigefügte Übersicht verwiesen.

3. Wie hoch ist der Anteil von Landesbediensteten in den Besoldungsgruppen R1 bis R8 mit ostdeutscher und westdeutscher Herkunft (bitte Angaben getrennt nach Richtern und Staatsanwälten)?
Antwort:
Zur Beantwortung wird auf die als Anlage beigefügte Übersicht verwiesen.
4. Erkennt die Landesregierung eine Unterrepräsentation Ostdeutscher bei der Einstellungs- und Beförderungspraxis des Freistaats in der Vergangenheit und in der Gegenwart? Falls ja, woher rühren diese Benachteiligungen nach Auffassung der Landesregierung?
Antwort:
Bei der Einstellungs- und Beförderungspraxis des Freistaats ist die Herkunft der Bediensteten nicht relevant. Die für eine Auswahl im Einstellungs- und Beförderungsverfahren maßgeblichen Kriterien für den jeweils zu besetzenden Dienstposten waren und sind vielmehr Eignung, Leistung und Befähigung (Artikel 33 Abs. 2 Grundgesetz).
5. Gibt oder gab es nach Auffassung der Landesregierung Auswahlkriterien im Einstellungs- und Beförderungsverfahren bezüglich der in den Fragen 1 bis 3 abgefragten Besoldungsgruppen, die bei ostdeutschen Lebensläufen seltener erfüllt werden als bei westdeutschen Lebensläufen?
Antwort:
Nach der besonderen historischen Ausgangssituation der Wiedervereinigung war es erforderlich in den Anfangsjahren des Aufbaus der Thüringer Landesverwaltung in einigen Bereichen Dienstposten vorrangig mit Bewerbern westdeutscher Herkunft zu besetzen. Ostdeutsche Bewerber verfügten zum damaligen Zeitpunkt mitunter nicht über die erforderlichen laufbahnrechtlichen Qualifikationen – insbesondere den entsprechenden anerkannten Hochschulabschluss oder einen Vorbereitungsdienst. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Herstellung der deutschen Einheit ist dieser Unterschied inzwischen nicht mehr relevant.
Ausbildungsbedingten Unterschieden, die im Rahmen des Erwerbs der Laufbahnbefähigung oder im Rahmen der tariflichen Eingruppierung eine Rolle spielen konnten, wurde weitgehend durch gesetzgeberische Maßnahmen oder durch Anpassungen im Tarifvertrag der Länder begegnet.
Im Übrigen wird auf die Beantwortung der Frage 4 verwiesen.
6. Welche Maßnahmen sind nach Auffassung der Landesregierung geeignet und erforderlich, um eine entsprechende Benachteiligung Ostdeutscher in der Einstellungs- und Beförderungspraxis des Freistaats zu beseitigen?
Antwort:
Die für die Einstellungen und Beförderungen erforderlichen Qualifikationen müssen durch alle Bewerber, unabhängig von ihrer Herkunft, erfüllt werden. Ostdeutsche Bewerber verfügen nunmehr regelmäßig über die gleichen Qualifikationen wie westdeutsche Bewerber. Einstellungen und Beförderungen richten
sich nach den Maßstäben des Artikels 33 Abs. 2 Grundgesetz. Darüber hinausgehende Maßnahmen sind nicht erforderlich und wären im Hinblick auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auch nicht zulässig.
7. Wenn die Frage 4 mit Nein beantwortet wird, woher rühren nach Auffassung der Landesregierung Überzeugungen in der Bevölkerung Thüringens, die auch Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung bei Ostdeutschen und Westdeutschen im Arbeitsleben keine Chancengleichheit sehen?
Antwort:
Es wird vermutet, dass hierfür neben anderen Faktoren auch in der Regel gesamtdeutsche Statistiken für bestimmte Berufsgruppen und herausgehobene Spitzenpositionen in der Wirtschaft ausschlaggebend sein könnten. Beispielgebend wird hier die Statistik bzw. Meldung zur Verteilung von Vorstandssitzen bei den im Aktienindizes DAX gelisteten Unternehmen genannt. Diese und ähnliche Statistiken sind in den zurückliegenden Jahren zum Teil sehr öffentlichkeitswirksam in den Medien behandelt und ausgewertet worden.

8. Über welche Erkenntnisse verfügt die Landesregierung in Bezug auf die Repräsentation Ostdeutscher und Westdeutscher in Führungspositionen der Thüringer Wirtschaft?
9. Welche Maßnahmen sind nach Auffassung der Landesregierung geeignet und erforderlich, um eine entsprechende Benachteiligung Ostdeutscher in Führungspositionen der Thüringer Wirtschaft zu beseitigen?
Antwort zu den Fragen 8 und 9:
Es existiert kein belastbares Datenmaterial bzw. keine wissenschaftliche Auswertung zur Besetzung von Führungspositionen der Thüringer Wirtschaft nach der Herkunft der Führungskräfte. Darüber hinaus stehen auch keine Instrumente zur Verfügung, um eine eventuell bestehende Benachteiligung ostdeutscher
Führungskräfte bei der Besetzung von Führungspositionen in der Thüringer Wirtschaft zu beseitigen.
10.Wie hoch ist der Anteil von Landesbediensteten mit Migrationshintergrund in den in den Fragen 1 bis 3 abgefragten Besoldungsgruppen?
Antwort:
Als Migrationshintergrund wurde die Definition von destatis herangezogen. Hiernach hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-)Aussiedlerinnen und (Spät-)Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen.
Die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges haben (gemäß Bundesvertriebenengesetz) einen gesonderten Status; sie und ihre Nachkommen zählen daher nicht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund.3 Hinsichtlich der in der Anlage benannten Anzahl von Beschäftigten mit Migrationshintergrund wird darauf hingewiesen, dass keine Daten zur Staatsangehörigkeit der Bediensteten bei der Geburt bzw. zur Staatsangehörigkeit der Eltern erhoben werden. Die in der Anlage enthaltenen Angaben beziehen sich daher auf Beschäftigte mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit bzw. im Ausland gelegenen Geburtsort.
Zur Beantwortung der Frage wird auf die Anlage verwiesen.

Vorgangsnummer im Thüringer Landtag

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