Im Bewusstsein ihres in den letzten Jahren immer deutlicher zutage tretenden, insbesondere auf einem Demokratiedefizit beruhenden Legitimationsmangels hat die Europäische Union einen Diskussionsprozess um die „Zukunft Europas“ (womit die Zukunft der EU gemeint ist) auf
den Weg gebracht, der gegenwärtig im Rahmen der „Konferenz zur Zukunft Europas“ stattfindet. Bereits die Diskussionen im Thüringer Landtag um das Weißbuch der Kommission zur Zukunft Europas vom März 2017 und um die dem Weißbuch folgenden Reflexionspapiere der Kommission offenbarten, dass es den Akteuren der EU und den ihnen folgenden nationalstaatlichen Akteuren inklusive der Thüringer Landesregierung mit der Debatte im Wesentlichen nicht um eine ergebnisoffene, faire Reflexion geht, sondern darum, eine weitere Zentralisierung und Kompetenzausweitung der EU ins Werk zu setzen.

Da es sich bei den Mitgliedern der im Rahmen der Zukunftskonferenz eingerichteten Bürgerforen um Bürger handelt, die in einem intransparenten Verfahren nach dem „Zufallsprinzip“ (aber dennoch bestimmten Quotenvorgaben entsprechend) ausgewählt wurden, ist die Zusammensetzung dieser Bürgerforen in keiner Weise repräsentativ. So weit zu sehen, sind dort im Übrigen auch keine Thüringer Bürger beteiligt. Die Bürgerforen sind von niemandem gewählte und in diesem Sinne nicht demokratisch legitimierte Gremien. Dieser Umstand wird verdeckt, wenn die Präsidentinnen und Präsidenten der deutschen und österreichischen Landesparlamente und des Südtiroler Landtags unter Beteiligung des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens in ihrer Erklärung anlässlich der 4. Europa-Konferenz am 1. Februar 2021 zur Konferenz zur Zukunft Europas von einer „intensive[n] Einbindung der Bürgerinnen und Bürger im Rahmen der Konferenz“ sprechen.
Tatsächlich werden die Debatten und Resultate der Bürgerforen von den EU-Institutionen mediatisiert und dominiert. Von einer freien und unabhängigen Meinungsbildung innerhalb der Bürgerforen kann nicht die Rede sein. So handelt es sich um betreute und beaufsichtigte Diskussionen und dementsprechend um einen gelenkten Diskurs. Besonders augenfällig wird dieser Umstand an der Zusammensetzung der Plenarversammlung der Konferenz. Hier machen die Bürger gerade ein Viertel der Mitglieder aus, während die restlichen drei Viertel aus EU- und nationalen Berufspolitikern sowie professionellen Vertretern partikularer Interessen bestehen. Auch die Diskussionen innerhalb der Nationalstaaten wie etwa im Freistaat Thüringen stellen sich als in hohem Maße von
einseitig den weiteren Ausbau der politischen Union fordernden („noch mehr EU“) Akteuren dar.
Die „digitale Plattform“, die einen Teil der Zukunftskonferenz darstellt und die Möglichkeit für EU- und damit auch für Thüringer Bürger bieten soll,
Ideen und Beiträge online zu äußern, unterwirft die entsprechenden Beiträge einem gänzlich intransparenten Filterprozess. Die Veröffentlichung
der Beiträge steht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, Inhalte, die gegen die sogenannte Charta der Zukunftskonferenz verstoßen, „von der
Plattform zu entfernen, und Einzelpersonen oder Organisationen, die die Grundsätze der Konferenz missachten, das Recht auf Nutzung der
visuellen Identität der Konferenz zu verwehren oder zu entziehen“ (https://futureu.europa.eu/pages/charter?locale=de). Da es die EU-Institutionen selbst sind, die über einen möglichen Verstoß befinden und entsprechende Interpretationsspielräume haben, ist fraglich, ob ein solcher Vorbehalt den offenen und freien Austausch befördert.
Der bisherige Prozess innerhalb der Zukunftskonferenz bestätigt, dass die Debatten darauf gerichtet sind, den politischen Zielsetzungen der
EU-Institutionen (namentlich: mehr Kompetenzen für die EU; Zentralisierung; EU-weite Umverteilung und Schuldenunion; Unterwerfung möglichst aller Politikfelder unter das Ziel der Erreichung einer sogenannten Klimaneutralität; Schaffung multikultureller, fragmentierter und tribalisierter Gesellschaften; Gender-Mainstreaming et cetera) eine inszenierte Legitimität zu verleihen.
Die öffentliche Debatte um die Zukunft der EU kann nur dann in Anspruch nehmen, die Pluralität der Interessen und Meinungen der Bürger frei zum Ausdruck kommen zu lassen, wenn sie offen, ausgewogen und nicht manipulativ geführt wird. Der von der EU mit der Zukunftskonferenz gesetzte Rahmen wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Auch dies ist als Zeichen dafür zu werten, dass die EU einer grundsätzlichen Reform bedarf, die auf die Preisgabe des Ziels einer politischen Union und eines entsprechenden europäischen „Superstaates“ zielen und stattdessen ein Europa der Vaterländer als Form der europaweiten politischen Kooperation anstreben muss.

Vorgangsnummer im Thüringer Landtag

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